Die Realität der Idealisten
Internationales Symposium an der Freien Universität Berlin
05.10. bis 08.10.2005
Teilnehmer:
Jürgen Trabant (Berlin), Hans Feger (Berlin), Lore Hühn (Freiburg), Wolfgang Riedel (Würzburg), Günter Oesterle (Gießen), Klaus Berghahn (Madison, USA), Rolf-Peter Janz (Berlin), James Reed (Oxford, United Kingdom), Giovanna Pinna (Italien), Jörg Robert (Würzburg), Richard Brittnacher (Berlin), Bernhard Lypp (München), Tze-wan Kwan (Hongkong, China), Ulrich Profitlich (Berlin), Hans-Georg Pott (Düsseldorf), Marie-Christin Wilm (Berlin), Yvonne Ehrenspeck (Berlin)
Organisatoren:
H. Feger, H.-R. Brittnacher
Zu dem wenig populären und verschütteten Grundbestand des Deutschen Idealismus gehört die Einsicht, dass er einen vertieften Realitätssinn hervorgebracht hat und trotz seiner überschwänglichen Gedanken festgemauert in der Erde blieb. Das Symposium möchte aus Anlass des Schillerjahrs auf eine Konstellation aufmerksam machen, die um 1800 das Projekt der Moderne aus der provinziellen Enge philosophischer Studierstuben herausführt und um ein weltoffenes, trans-disziplinäres und interkulturelles Wissenschaftsverständnis erweitert. Friedrich Schiller, Wilhelm von Humboldt und Alex-ander von Humboldt stehen stellvertretend für den Begriff eines Weltbürgertums, eines Kosmopolitismus und der Idee einer globalen Wissenschaft, die getragen ist von einer Phantasie, der keine Grenzen gesetzt sind und die doch nicht ins Imaginäre entschwinden, sondern Realitäten erforschen will.
Das Symposium unterscheidet sich von vergleichbaren Symposien im Schillerjahr, indem es einen deutlichen Schwerpunkt auf die Beziehung Schillers zu den Gebrüdern Humboldt legt. Damit soll das Profil einer intellektuellen Konfiguration um 1800 rekonstruiert werden, die bislang hinter der Erforschung anderer wirkungsträchtiger Beziehungen und Zusammen-hänge das Nachsehen hatte. So ist die Dramatik des jungen Schillers im Kontext der englischen Moralphilosophie und der aufgeklärten Anthropologie in den letzten Jahren mit reichem Ertrag erforscht worden. Auch die Poetik Schillers und Goethes und ihre entschlossene publizistische Kartierung des Zeitalters standen immer wieder im Zentrum wissenschaft-licher Aufmerksamkeit. Diese kulturelle Erinnerungsarbeit legte freilich auch Defizite des idealistischen Programms frei, die dem spekulativen Hochmut der ästhetischen Philosophie oder der entschlossenen Missbilligung des Profanen geschuldet waren.
Mit der Schwerpunktsetzung auf Schillers Beziehung zu den Gebrüdern Humboldt werden jedoch die Umrisse einer anderen Konstellation erkennbar. Besonders Alexander von Humboldt, der „sanfte“ oder „zweite“ Entdecker Amerikas, ist in den vergangenen Jahren immer mehr ins Rampenlicht des öffentlichen Interesses gerückt. Die 200-Jahr-Feiern zum Gedenken seiner Forschungsreise nach Amerika haben zu einer Flut von Veröffentlichungen und Neuausgaben geführt, an die das Symposium anknüpfen will. Die Nähe zur Literatur und Ästhetik im Umfeld der Weimarer Klassik ist hierbei offen-sichtlich, wenn auch bislang noch nicht hinreichend in die Aufmerksamkeit der Forschung geraten. Die Reise- und Naturbeschreibungen Alexander von Humboldts enthalten eine poetische Form der Natur- und Kulturbetrachtung, die fernab von einer pragmatistisch-instrumentellen Form der Kolonialisierung einen Maßstab dafür enthält, wie sich fremde Kulturen beur-teilen lassen. Als Entdeckungsreisender, Naturwissenschaftler, Historiker und Anthropologe dokumentiert Alexander von Humboldt eindruckvoll, dass die sinnliche Erfahrung der Natur und ihre wissenschaftliche Erkenntnis kein Widerspruch sind, sondern beide ein Kosmos umschließt, der „zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt“. Den Rigorismus einer auf den Leistungen der instrumentellen Vernunft basierenden Wissenschaft lässt A. v. Humboldt zugun-sten einer phänomenologisch gesättigten Naturbetrachtung hinter sich.
Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schiller – der Dramatiker der Weimarer Klassik und der Staatsmann, der die Ideale der Weimarer Klassik in seiner Bildungsreform Wirklichkeit werden lässt – sollen vor diesem Hintergrund als Wegbereiter dieser Idee neu in den Blick genommen werden. Beiden ist ein vertiefter und unverstellter Zugang zur klassischen Antike ge-meinsam – immer wieder hat Schiller den Rat des gräzistisch gebildeten Wilhelm von Humboldt gesucht. Beide propa-gieren den hohe Stellenwert der ästhetischen Erziehung im Prozess der Selbstwerdung des Individuums, beide vertreten eine humanistisch-bildungsphilosophische Programmatik, deren staatstheoretische, politische und pädagogische Relevanz weit über die Grenzen Deutschlands Wirkung gehabt haben. Beide stehen aber auch in einer tiefen Affinität zu dem Weltbewusstsein und Weltbürgertum Alexander von Humboldts – ein Umstand, der nicht zuletzt noch in Schillers spä-en Plan der „Seestücke“ zum Ausdruck kommt.
Die Wende zu einem Kunstverständnis, das Poesie und Wissenschaft zu verbinden trachtet, fand in der wohl wichtigsten und produktivsten Schaffensperiode Schillers und Wilhelm von Humboldts, in den Jahren 1793 bis 1797 in Weimar, statt. Ausgelöst wird sie durch die philosophische Kofundierung von ästhetischer Wahrnehmung und Naturteleologie. Sowohl Friedrich Schiller als auch Wilhelm v. Humboldt sind zeitlebens Anhänger der ästhetischen Programmatik Kants geblieben, auch und gerade dort, wo sie die Kantische Philosophie weiterentwickelten und in eigenen bildungstheoretischen Frage-stellungen über sie hinausgegangen sind. Die produktive Auseinandersetzung mit Kant – einem Meister imaginärer Reisen um Welt –führt sie zur Ausbildung von ästhetischen Konzeptionen, die zu Manifesten der klassischen Ästhetik geworden sind. Dabei haben sie sich in ihren anthropologischen Studien einen praktischen Beobachtungssinn bewahrt, der vor allem in den geschichtsphilosophischen Abhandlungen, den Studien zur vergleichenden Anthropologie, der neuhumanistischen Bildungsreform, aber auch in den großen Tragödien und tragödientheoretischen Schriften zum Tragen kommt. Schillers Interesse am antiken Theater dürfte neben Karl Philipp Moritz in Wilhelm von Humboldt einen der wichtigsten Ideengeber haben, seine ästhetisch-philosophischen Überlegungen fanden im Denken des Politikers realistische Ergänzungen und Korrekturen. Gemeinsam ist Schiller und den Brüdern Humboldt auch ein unverbrüchlicher Anspruch auf die Idee des Weltbewohners, der seine kosmopolitische und liberale Emphase über alle sozialen, nationalen und wissenschaftlichen Restrik-tionen hinweg behauptet. Das Symposium nimmt sich vor, dieses wissenschaftliche Unternehmen, das im Kern ein ästheti-sches ist und zu Beginn des 19. Jahrhunderts einzigartig dasteht, zu erforschen.
Diese neu perspektivierte Fragestellung kann nicht nur weitere Aufschlüsse über das Verhältnis von Poesie und Philosophie zum Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts liefern, sondern sich auch an einer neuen Lektüre von Werken Schillers bewähren. Die neue Kontextualisierung rückt nicht allein den optimistischen Idealismus von Schillers Werken neu in den Blick, sondern auch deren gelegentlich skeptische Anthropologie, die vor dem Hintergrund der Beziehung zu den Gebrüdern Humboldt neue Facetten erhält. Schillers Zurückhaltung gegenüber der Komödie – trotz dramentheoretischer und theaterpraktischer Überlegungen zum Lustspiel –, seine Faszination für das Böse und den Verbrecher, die sich durch seine Überlegungen zum Erhabenen keineswegs erschöpfend begründen lässt, sein Faible für Formen hypertropher Rhetorik, die immer wieder zur Parodie herausgefordert haben und die Dominanz des Gedanklichen in seiner Lyrik gehören zu den Fragen, die seit langem die Schiller-Forschung beschäftigen und sind auch vor dem Hintergrund jener intellektuellen Konstellation um 1800, die das Symposium zu seinem Thema macht, neu zu bedenken.